Wurzen

„Man hat wirklich keine Freunde, wenn man da nicht mitmacht, da bei den Rechten und so.“

In den neunziger Jahren kommt zu ersten Schlagzeilen über rechts-motivierte Gewalt in Wurzen. Bereits 1991 gibt es Berichte von Straßenschlachten und rassistischen Übergriffen auf Menschen. Im selben Jahr dringen mehrere mit Schlagringen, Schreckschusspistolen und Baseballschlägern bewaffnete Neonazis in das Asylsuchendenheim in Wurzen ein. Die Bewohner_innen werden zusammengeschlagen und zum Teil schwer verletzt. Die Inneneinrichtung wird von den Angreifern zerstört. Der Angriff läuft gut organisiert ab. Auf der Straße postierte Verbündete warnen die Angreifer vor der später anrückenden Polizei. Es gibt keine Festnahmen. Aus Angst vor weiteren Übergriffen fliehen die Bewohner_innen wenige Tage nach dem Überfall nach Hessen.

Jugendclubs und linke Jugendliche werden bedroht, bewaffnet angegriffen und Häuser mit Brandsätze beworfen.

Im Oktober 1994 werden portugiesische Bauarbeiter von einer Gruppe rechter Skinheads überfallen. Die Angreifer schlugen mit Eisenstangen, Knüppeln und Steinen auf sie ein. Die eintreffenden Polizist_innen werden ebenfalls angegriffen. Der Staatsanwaltschaft liegen die Namen von 60 Tatbeteiligten vor. Zur Vernehmung vorgeladen werden lediglich 15 von ihnen. Die portugiesischen Bauarbeiter verlassen Deutschland aus Angst vor weiteren Angriffen.

Auch die Hetzjagd eines mit Jugendlichen voll besetzten Autos im November 1994 endete brutal. Die Jugendlichen werden zum Anhalten gezwungenen und von acht Neonazis mit Baseballschlägern so brutal zusammengeschlagen, dass ein Jugendlicher für sechs Wochen stationär im Krankenhaus behandelt werden muss. Nach Aussage der Jugendlichen, die mehrere Angreifer identifizieren können, verweigerte die Polizei die Aufnahme einer Anzeige bei der Vernehmung im Krankenhaus.

Im März 1996 wird ein in einem leerstehenden Fabrikgebäude lebender Wohnungsloser von sechs rechten Jugendlichen angegriffen. Mit einem Luftdruckgewehr schießen sie ihm sein verbleibendes funktionierendes Auge aus, er erblindet.

Im April wird zum wiederholten Male aus einem von rechten Jugendlichen besuchten Jugendzentrum mit einer Druckluftpistole auf das gegenüberliegende Europäische Bildungswerk geschossen. Die Kugel verfehlt den Kopf einer Lehrerin nur um 20 cm.

Selbst der Verfassungsschutz gibt Mitte 1996 bekannt, dass sich in Wurzen das „wohl wichtigste Zentrum der Neonazis in Deutschland“ befindet. Im selben Jahr erklärt das LKA in einer Regionalzeitung, dass die Dunkelziffer rechter Übergriffe im Landkreis jährlich in die Hunderte gehe.

1998 widmet sich eine Kontrast-Sendung im ARD mit der Kleinstadt und ihren gewaltbereiten Neonazis und rechten Jugendlichen. Der damalige Bürgermeister erklärt, er habe in Wurzen noch nie einen Rechten gesehen. Fernsehteams, die über die Wurzener Neonaziszene berichten wollen, wird vorgeworfen, ein Bild zu inszenieren und Schauspieler_innen einzusetzen. Das Image Wurzens steht auf dem Spiel. Lokal agierende Nazis seien Übertreibungen. Es handele sich lediglich um Jugendliche. Die Interviews mit Jugendlichen vor Ort zeigen ein unverändertes Bild. Sich verbarrikadierende Neonazis, gut strukturiert und organisiert. Abende mit rechten Bands. Lehrer_innen der Berufsschule räumen ein, dass rechtsorientierte Schüler_innen die Mehrheit bilden. An Jugendlichen, die diese Einschätzung bekräftigen, mangelt es nicht.